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Grenzen setzen, um Grenzen zu überschreiten (1994)

Dagmar Groß, Redakteurin

Martin R. Becker – Acrylbilder

Schwarz und Weiß

Anfang und Ende, Licht und Schatten, Schwarz und Weiß: Der Krefelder Künstler Martin R. Becker beschäftigt sich seit über 20 Jahren beinahe aus- schließlich mit diesen beiden Gegensätzen. Eine nur scheinbare Selbstbeschränkung, wie der 1949 bei Saarbrücken geborene Maler betont. Denn das Ausloten dieser Grenzen, das Abschreiten des Spannungsfeldes zwischen diesen Polen und das Heraushören der Zwischentöne von Schwarz über Grau bis hin zu Weiß eröffnet ihm in der Enge eine ungeheure Tiefe. Die sucht der ausgebildete Kunstpädagoge in den unterschiedlichsten Arbeitstechniken immer wieder aufs neue zu ergründen.
Zu symbolbeladen und beschreibend erscheinen Becker all die anderen Farben. Die Welt sei so bunt, meint er, daß man sich in der Kunst getrost auf klare Linien einlassen könne. Daß auch Schwarz und Weiß indes einen Symbolwert haben, bestimmte Assoziationen beim Betrachter evozieren, ist für das Verständnis der Arbeiten nicht zentral, mag aber dennoch für Beckers Thema der >Grenzen< aufschlußreich sein.

Schwarz und Weiß gelten der Farbenlehre als eigenständige Werte, die in- sofern den Primärfarben gleichzusetzen sind, gleichzeitig gewissermaßen als deren Grenzwerte gelten. Denn wenn wir Schwarz sehen, fehlen alle Primärfarben, fehlt das Licht. Treffen aber alle Primärfarben zusammen, sehen wir Weiß. Beide gelten deshalb als das Absolute, als die Summe aller Möglichkeiten, da entweder alles in ihnen enthalten oder aber noch alles offen ist. Damit partizipieren sie an der theologisch-philosophischen Thematik von absoluter Unschuld (der paradiesische Zustand, der uns durch den Sündenfall um den Preis der Erkenntnis verloren ging) und absoluter Erkenntnis (die den Weg ins Paradies wieder öffnen könnte). In der chinesischen Philosophie steht Schwarz für das weibliche Prinzip , >Yin<, (Assoziationen sind: Dunkelheit, Erde, Feuchtigkeit, Passivität), steht Weiß für das männliche Prinzip, >Yang<, (Assoziationen: Helligkeit, Himmel, Trockenheit, Aktivität). Beide Prinzipien beeinflussen sich gegenseitig, sind voneinander abhängig, was in dem s-förmigen geteilten Kreissymbol sinnfällig wird. Die Frage nach den Grenzen und dem, was dazwischen passiert, spiegelt sich also auch in der Symbolik wider.

In der Wahl der Formen geht Becker ebenfalls auf die Ursprünge zurück, schränkt sich bewußt ein, indem er sich auf den Strich, die einzelne Linie konzentriert – Grundlage jeglicher Zeichnung und Malerei. Gleichzeitig markiert der Strich einen Übergang , ein Ende; er begrenzt einen Raum oder ei- ne Fläche. Kunst wie auch Wissenschaft könnte sich jedoch nie weiterentwickeln, würden sie diese Grenzen akzeptieren, ohne sie zu hinterfragen. So werden sie für den Künstler Becker zum zentralen Thema. Er schaut ganz genau hin, was an diesen Übergängen, an diesen Grenzen passiert. Der Strich wird zum isolierten Objekt, das der Künstler aus der Masse heraus- holt. Wie durch eine Lupe oder durch ein Mikroskop betrachtet, entwickeln die Linien plötzlich ein Eigenleben, wölben und spreizen sich, fransen aus, drängen in den Raum hinein, den sie eigentlich begrenzen, definieren sollen. Was aus der Distanz wie eine klare Linie in Grau wirkt, entpuppt sich in der scharfen Beobachtung des Künstlers als kraftvolles und dynamisches Spiel unterschiedlicher Helligkeitsstufen.

Auch wenn Martin R. Becker analytisch an sein Thema herangeht, ist sein Ergebnis alles andere als nüchtern und klar. Das Gewirr von Linien und Strichen, das Becker in jedem einzelnen Pinselstrich entdeckt, die Vielfalt an Grautönen geben seinen Arbeiten etwas Anarchisches, Chaotisches. Dieser Eindruck wird durch seinen gesteuerten Eingriff in die Bilder noch verstärkt. Der Radiergummi, mit dem er über Bleistift- oder Ölkreidezeichnungen fährt, der Spachtel in den noch feuchten Acrylfarbschichten – beides hinterläßt deutliche Spuren, führt zu immer neuen Vermischungen und Verwischungen, zu immer neuen Grautönen. Sie begründen die vieldeutige und dynamische Interaktion von Licht und Schatten, die die Bilder des Künstlers prägt.

So entstehen innerhalb der selbst abgesteckten Grenzen ständig neue Zusammenhänge, Kontraste, aber auch Analogien. Diese Eingriffe gingen in den 80er Jahren so weit, daß Becker eigene Zeichnungen zerriß oder zerschnitt, um dann einzelne Elemente zu neuen Bildern zu ordnen. So löst er bestehende Grenzen auf, schafft neue Räume, aber auch neue Rahmen. Dieses Interesse an Bewegung und an Kontrasten, das Spiel mit Linien und Schatten hat er mit einer beachtenswerten konzeptionellen Konsequenz auch auf andere künstlerische Medien und Materialien übertragen: äußerst gestische mit dem Pinsel breit aufgetragene Tuschen, holzschnittartige Drucke von – mit einem geschliffenen Metallstab – grob bearbeiteten Holzplatten, bewegliche, an Nylonfäden aufgehängte Wandobjekte aus Alustäben und – röhren, Experimente mit Computer und Film. Die Schwarz-Weiß-Kontraste und die Dynamik stehen auch dabei immer im Vordergrund.

Dennoch hat dieses in allen Werkgruppen wiederkehrende Chaos nichts Beunruhigendes. Das Spielerische, das Kreative von Beckers >Visionen< behält die Überhand, kann den Betrachter – sofern dieser sich darauf einläßt – an die Hand nehmen, mit ihm die Grenze der Realität überschreiten in den Bereich der Phantasie. Symbole bieten ihm hier eine gewisse Orientierung. Aber end->gültige< Antworten wird er von Becker vergeblich erwarten.

Die Acrylbilder

Martin R. Beckers Acrylarbeiten auf Leinwand lassen drei Entwicklungsschritte erkennen: die Bilder, die sich mit dem einzelnen Strich auseinander- setzen; die Arbeiten, die angesichts der horizontalen Aufteilung ein wenig an abstrakte Landschaften erinnern; die all-over-Bilder, die kaum noch das Weiß des Malgrundes durchscheinen lassen.

Wie bei den Zeichnungen ist auch in Beckers Acrylbildern eine einzige Linie der Ausgangspunkt. Doch die hat es bei dem Krefelder Künstler in sich. Als betrachte er diese gleichmäßigen geraden Striche – die in der Regel allenfalls beachtet werden, weil sie eine Fläche begrenzen – unter einem Vergrößerungsglas, liegt vor uns eine Spur mit einem bewegten Innenleben. Nach allen Seiten dehnt und streckt sich dieses Gebilde – das wir doch sonst als klare Grenze empfinden – in alle möglichen Richtungen des Raums, weist unregelmäßige Ränder sowie unterschiedliche Breiten, Tiefen und Farbwerte von Schwarz bis Hellgrau auf In Beckers Sichtweise wird dieses Gruppengebilde zum >Individuum< mit einer eigenen Aussagekraft und Interaktion mit dem Raum.

Zusammengesetzt aus einer Vielzahl von Linien und Strichen, die in verschiedenen Richtungen auseinanderzudriften scheinen, wird jeder Einzel- strich plötzlich zu einem dynamischen Kraftbündel. Die deutlich sichtbaren Spuren von Pinsel und Spachtel verstärken diesen Eindruck von Bewegung und Tiefe ebenso wie der weiße Hintergrund. Nach und nach erobern Schwarz- und Grautöne die Leinwände Beckers immer mehr. Aus der Einzelbetrachtung erwächst ein chaotisches Bündel von Strichen, das nur noch an einer Seite den weißen Untergrund durchscheinen läßt. Nicht nur wegen der horizontalen Bildaufteilung erinnern diese Arbeiten an Landschaften. Die Kombination von mehr oder weniger bewegten , von dunklen und pastosen mit helleren und transparenteren Flächen ruft je nachdem Bilder eines ruhigen Sees oder eines aufgewühlten Meeres, eines kantigen Gebirgszugs oder eines sanften Hügels, eines vom Winde gebeugten Büschels Gras oder Schilf hervor Dies sind Assoziationen, die Becker dem Betrachter zwar zugesteht, auf die er sich aber keinesfalls festlegen lassen will.

Ihm geht es nicht um den Verweis auf Realität, sondern um das Spiel der Kräfte, das sich in den oft entgegengesetzten Bewegungen der gestischen Pinselstriche ausdrückt und durch die unterschiedlich strukturierte Fläche noch unterstrichen wird. Dieses Spiel der Kräfte erzeugt Formen, es sorgt für Überlagerungen, für das Auflösen oder doch Aufbrechen vorhandener Strukturen, es macht neue Verbindungen möglich. Becker sucht immer neue Zusammenhänge , macht sie erfahrbar, er stößt an Grenzen, überwindet sie oder löst sie auf, erschließt so dem Betrachter neue (Denk-)Räume. Dazu paßt, daß die Bilder keinen Rahmen haben. Diese Kraft, diese Bewegung läßt sich über den Bildrand hinaus denken, weiterführen.

Ein weiterer Schritt in seiner Malerei sind die in jüngster Zeit entstandenen all-over-Bilder; Bilder , die die Leinwand völlig bedecken, oder doch nur winzige Durchblicke auf den weißen Malgrund freigeben. Hier präsentiert Becker einen wahren Dschungeln von zum Teil weit ausladenden Pinselstrichen in den unterschiedlichsten Grauabstufungen, die wie schon in der Phase zuvor an üppige Vegetation, an Organisches erinnern. Die Überlagerung in der Kombination mit den verschiedenen Helligkeitsgraden verstärkt den Eindruck der Tiefe. Selbst in den >wilden< chaotischen Bildern bleibt die Poesie, eine gewisse Ruhe, der Arbeiten erhalten.

Martin R. Beckers Bilder fordern den kreativen Geist, laden den Betrachter zum Erforschen, Erspüren, zum Weiterdenken über den Bildrand , über die eigene Erfahrungswelt hinaus, ein. Sie sind ein Prüfstein für unseren eigenen Umgang mit allem, was uns fremd und ungewohnt erscheint.

September 1994