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Im Zeichen der Stille (1988)

Rolf Leibenguth, Dramaturg

Über die Zeichnungen von Martin R. Becker I
Was ehedem Skizzen waren, Notate des Künstlers für noch zu fertigende Werke, was Momentaufnahmen von Beobachtungen oder von spontanen Ein- fällen waren, seit der frühen Romantik, der Hochzeit der Zeichnung, werden sie als eigenständige Werke betrachtet und anerkannt. Das Vorläufige an ih- nen, das Unfertige, das nicht Ausgearbeitete, das bewußt Fragmentarische gilt seitdem immer mehr als Beleg für einen geistigen, seelischen und gesell- schaftlichen Zustand, dem die Komplexizität der Moderne über den Kopf ge- wachsen ist und also die einfachen Zusammenhänge und die Übersicht ab- handen gekommen sind. Die Teile können ihm immer weniger zu einem Ganzen zusammengefügt werden. Einzig, so scheint es, im Aphorismus ist noch Prägnanz zu erreichen. Er aber steht für sich, ist die Spitze eines Eis- bergs, dessen Masse unter dem Sicht- und Erkennbaren, d.h. unter der be- grifflich faßbaren Oberfläche im Dunkel des überforderten Bewußtseins bleibt. Was also heute, auch im Zeitalter der Megamaschinen, nicht möglich ist, nämlich die unendliche Zahl von Quantitäten in ein umfassendes Bezugs- system zu integrieren, das kann auch dem Künstler nicht gelingen.
Was aber setzt er dagegen? Träume, Visionen, Spekulationen, das „Große Abstrakte“, die Gegenstandslosigkeit. Er setzt Zeichen und gibt ihnen die scheinbare Sicherheit einer autonomen, gleichwohl verschlüsselten neuen Sprache. Sie nämlich läßt nun mit all ihren Unschärfen im Unbekannten zu, das nicht mehr genau zu Benennende, das Numinose oder das Unbewußte einem kaum überprüfbaren Raum für Interpretationen und Deutungen zu überantworten. Oder, auch Künstler und Zeitgenossen des technischen Zeit- alters, sie suchen, Naturwissenschaftlern vergleichbar, nach Methoden, die der Erforschung von Detailproblemen dienen. Der Farbe z.B., dem Material z.B., oder sie gehen wie Neurologen vor, um die flüchtigen Erregungen und Bewegungen der Psyche so unvermittelt wie nur möglich aufzuzeichnen. Dies alles geschah und geschieht und ist unumkehrbar geworden bei der ästheti- schen Erfassung der Welt. Aber, in Stilformen gepreßt, die Reinheit des Wol- lens, des Tuns und der Ordnung, verlangt, daß voneinander geschieden und letztlich unvereinbar bleibt, was getrennt erforscht und entwickelt worden ist.
II
Von Zeichen war die Rede. Von der mit ihnen angestrebten Möglichkeit, das Unwesentliche vom Wesentlichen zu trennen, und gleichzeitig die dann un- verblümt zu Tage tretende Substanz in eins zu setzen mit dem Anspruch, ei- ner darin aufgehobenen Wahrheit die nötige Klarheit zu verschaffen. Was da also weggeschlagen wird an Umschreibungen und Verzierungen, was da über
den Kraftakt der Reduktion bloßgelegt und im Keim sichtbar gemacht wer- den soll, soll dem Künstler die Freiheit verschaffen, gewissermaßen nach ei- genem Erkennen und Wissen andere und neue Regeln des Zusammenspiels zu erarbeiten und zu erfinden. Oder, wenn dies oft genug auch nur ein Wunsch und eine Hoffnung bleibt, wenigstens den Betrachter zur Besinnung zu führen, über die millionenfach vorhandenen Bausteine nachzudenken, aus denen unser Sein zusammengestzt ist.
III
In der Musik der Gegenwart arbeiten schon seit einiger Zeit junge Komponis- ten daran, diesen Weg zu beschreiten. Sie komponieren nicht aus der Fülle des historischen Materials bzw. nach den Regeln der Zwölftonreihen oder nach den mathematisch festgelegten Regeln der seriellen Kompositionsan- weisungen. Sie entwickeln ihre Kompositionen aus einem einzigen Ton. Und manche von ihnen gehen noch weiter, indem sie ihn immer wieder teilen, fast bis zu dem Punkt, wo er gewissermaßen nur noch in der Vorstellung des Hörers vorhanden ist als „schweigende“ Musik, falls es das geben sollte.
So immateriell wie eine derartige in der Stille verschwindende Musik können Zeichnungen selbstverständlich nicht sein. Sie geben immer etwas zu erken- nen, wenn auch in diesem Medium der Sprachgebrauch Ähnlichkeiten ver- muten läßt: Farbklänge, Klangraum, Strukturen, Rhythmen usw. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.
So wie wir sie wählen, verweisen sie also immer auch auf beides, wobei im Falle der Musik solche Begriffe mehr Beschreibungen sind um der Mitteilung willen, während sie im Falle der Zeichnung selbst Gegenstand sind, der sich einer genauen Analyse verweigert und lediglich der intensiven Anschauung bedarf. Immerhin befindet sich eine auf und abschwellende Linie, ihre hori- zontale oder vertikale Bewegung und gegebenenfalls auch schwingende und sich verdichtende Gravur im Raum, hier bei Martin R. Becker in einem leeren Raum, der die Linie kraft seines Schweigens vor unseren Augen in Vibratio- nen versetzt. Es ist aber nicht sie selbst, es ist das Subjekt, der Betrachter also, von dem es abhängt, wie sich diese Linien vor seinen Augen letztlich verhalten. Und es ist seiner ganz persönlichen Wahrnehmung überlassen, wie er den die Linie umgebenden Raum erlebt, als leer vielleicht und bedeu- tungslos, oder angefüllt mit Stille und Schweigen. Jedenfalls gerät der Bet- rachter in die Nähe des Atomphysikers, für den es bei der Erforschung der Quanten zur Überraschung wurde, daß das Ergebnis seines noch naturwis- senschaftlichen Tuns nicht von Meßzahlen abhängt sondern von seiner sub- jektiven Wahrnehmung, die sich nie auf die gleiche Weise reproduzieren läßt. – Ein höchst beunruhigender Vorgang, stellt er doch alle Objektivität in Frage.
IV
Die Zeichnungen Martin R. Beckers sind zwar keine Illustrationen dieses physikalischen Phänomens, sie sind aber vielleicht doch hingeschriebene Zeichen einer Erfahrung, die den Betrachter auch außerhalb gängiger kunst- ästhetischer Kategorien geradezu zwanghaft in seine Rechte als Subjekt ein- setzt. Er muß sich offen halten für etwas, das nichts beschreibt und insofern keine wie auch immer geartete Widerspiegelung ist. Diese mit weichem Blei gezeichneten fallenden, an- und abschwellenden, sich verknäuelnden und wieder lösenden Gravuren befassen sich aber noch nicht einmal mit sich selbst. Schwingungen vergleichbar verhalten sie sich für jeden, der sie wahrnimmt, ungenau und von Augenblick zu Augenblick anders. Ihr Verlauf gewinnt Bedeutung nur als ein Ereignis, das allein im Betrachter ausgelöst wird, in jedem individuell verschieden. Und von jedem einzelnen wird ab- hängen, inwiefern er genügend Widerstandskraft besitzt, um den leeren Raum zu ertragen als eine doppelte Herausforderung an seine physische und seelische Befindlichkeit. Kann er die Stille aushalten und als absolutes Schweigen akzeptieren, auf das er in sich eine Antwort finden muß?
Oder widerspricht er um seiner Selbsterhaltung willen oder aus einer unaus- gesprochenen Angst, indem er den leeren, weißen Raum als „das weiße Rau- schen“ erlebt, als ein undefinierbares und nicht ortbares Geräusch, das alle Kommunikationsströme in sich aufsaugt.
V
Auf welche Weise der Betrachter diese Zeichen auch zu lesen vermag, ob als eine Art musikalischer Partitur, als eben noch sichtbaren Hinweis auf ein sukzessives Verschwinden in den Strukturen von Mikrowelten oder als reduktionistisch bildlichen Ausdruck bipolaren Welterlebens: Geräusch und Stille. Der Betrachter wird jedenfalls in jeder der Erlebensweisen auf sich selbst verwiesen, auf sein Bewußtsein einerseits und andererseits auf ein all- gemeines kollektives und subjektives Unbewußtes, auf die Möglichkeit je- denfalls, sich seiner selbst mehr meditativ und begriffslos zu vergewissern denn materialistisch und als Objekt eines gesellschaftlichen Beziehungsge- flechts.
Martin R. Beckers Zeichnungen, soviel kann man wohl sagen nehmen nicht Stellung gegen oder für etwas. Sie sind allein für sich da und lassen nur zu, entdeckt zu werden, nicht indem man sie beschreibt oder reflektiert, son- dern indem man vor ihnen schweigt.