© Dr. Christian Krausch, Kunsthistoriker
Die Räume der Gemeinschaft Krefelder Künstler, GKK, auf der St.-Anton-Straße sind leer. So scheint es zumindest auf den ersten flüchtigen Blick. Keine helle Ausleuchtung hebt den zur Straße hin ausgerichteten Raum aus seinem Tageszeit abhängigen Licht. Allein eine Neonröhre entfaltet ihren weißen Schein an der gegenüberliegenden Wand in Bodenhöhe. Kaltlicht ist es, nicht schmeichelnd, sondern an dieser Stelle Fakten schaffend, wie ein beiläufiger Hammerschlag. Die Neonröhre ist Bestandteil einer drei- teiligen Wandkonstruktion aus dünnen Eisendrähten. Bei eingehender Betrachtung ge- sehen, greift diese die aus der Tafelmalerei bekannte Form eines Triptychons auf. Über Eisenstifte gespannt, markieren die Drähte die Grenzen dreier Flächen der weißen Raumwand, die somit integraler Bestandteil des Werkes wird. Die Leere des Bildes geht einher mit dem Gefühl der Stille, die den gesamten Raum beherrscht. Die Erinnerungen an Hektik und Alltag verblassen mehr und mehr und Ruhe breitet sich aus.
Weitere Arbeiten sind im Raum. Zwei Aluminiumstäbe, mit Eisendraht verlängert, stehen im Abstand von rund 40 cm als „2 Stelen“ vor der Wand. Sie folgen in ihrer schlanken Erscheinung und der Gesamthöhe von 260 cm dem sie hinterfangenden schmalen Wandabschnitt, der dadurch in seiner Architektur eine Bestätigung erfährt. Eine ver- gleichbare Situation markieren schräg gegenüber zwei weitere Aluminiumstäbe vor einem hochformatigen, rund 80 x 60 cm großen Büttenpapier. An anderer Stelle breiten sich in Augenhöhe fünf quadratische „Frames“ in der Technik des Triptychons mit einer jeweiligen Kantenlänge von 50 cm aus. Entsprechend der breiten Wandfläche sind durch die einzelnen Abstände zwischen den Arbeiten 290 cm an Raum akzentuiert. Den „Frames“ vis-à-vis antwortet ein weiteres, hochformatiges Triptychon der Architekturbegebenheit, wobei ein das Mittelteil hinterfangenes Transparentpapier als zusätzliche Ebene die Blicke fängt. Das Spiel mit der Mehrschichtigkeit greift Becker im angrenze n- den Raum erneut auf, in dem die Arbeiten nach vergleichbaren Überlegungen mit der Architektur korrespondieren. Im Dialog mit der Wand steht hier ein eisendrahtverlängerter Aluminiumstab vor einer schlanken Bahn aus Transparentpapier, wohingegen eine andere „Stele“ noch einmal das Zusammenspiel aus Aluminiumstab und Büttenpapier aufgreift. Drei weitere, hochformatige „Frames“ aus gespanntem Draht spielen mit der Fläche der entsprechenden Wand, die, in Anlehnung zur erst genannten Arbeit, durch eine in Bodenhöhe angebrachten Neonröhre partiell in kaltes Licht getaucht wird. Drei hochformatige Graphitzeichnungen auf Bütten schließlich verweisen durch die Variation vertikaler sowie zum Hochrechteck gefügter Linien auf die, in der Gesamtinstallation mehrfach anzutreffenden Formensprache. Bis auf das Weiß der Wände und des Papiers, das Schwarz der Eisendrähte sowie des Graphits und dem Silber der Aluminiumstäbe belebt keine weitere Farbe die beiden Räume. Für den Zeitraum von vier Wochen wird somit das von Martin R. Becker entwickelte SARATOW – [project], benannt nach der gleichnamigen Stadt am Wolgograder Stausee, ein Ort der Ruhe und zugleich ein Ort der Meditation.
Insgesamt neun zum Teil mehrteilige Arbeiten bespielen die beiden GKK-Räume nach einem Architektur reflektierenden Plan. Dabei ist ihr Auftritt ein leiser, der auf vorder- gründige und laute Effekte verzichtet. Kein ablenkendes Beiwerk stört die Blicke. Sie können sich gezielt auf die eingesetzten Materialien und Formen konzentrieren. Martin R. Becker arbeitet dabei mit typischen Genres, dem Tafelbild, der Skulptur, der Zeichnung auf Bütten, ohne sie in letzter Konsequenz zum Einsatz zu bringen. Vielmehr beschränkt sich der Künstler auf einige wenige, dabei aber klar formulierte Andeutungen, die die Dinge mehr benennen, als sie zu zeigen. So erlauben die „5 Frames“ im ersten Raum eine stimmige Vorstellung von einer typischen Bilderserie, deren Inhalte vorerst nicht von Belang sind. Ebenfalls spielen die verschiedenen Stelen aus Aluminium mit bildhauerischen Fragestellungen, ohne sie an eine spezielle Arbeit zu binden. Der Wechsel der Materialien Aluminium und Eisen oder deren Zusammenspiel mit Bütten- oder Transparentpapier lenkt die Aufmerksamkeit hier auf generell strukturelle und räumliche Veränderungen innerhalb eines Werkes, wie sie für das Selbstverständnis von Skulptur bezeichnend sind. Zudem sind die mit Papier korrespondierenden Stelen von grafischer Natur, die in den Graphitzeichnungen de facto noch einmal aufgegriffen wird. Durch die wechselseitige Übertragung einer dreidimensionalen Arbeit in ein zwei- dimensionales Medium werden an dieser Stelle unter Verzicht auf einen unmittelbaren kunsthistorischen Verweis die Beziehungen zwischen Skulptur und Zeichnung erfahrbar gemacht. Der von Becker praktizierte Umgang erlaubt überdies, die klassische Funktion von Papier als Bildträger zu ergründen. Neben den beschriebenen Möglichkeiten seiner zeichnerischen Eroberung, dient das Papier in transparenter Form als raumschaffendes Element, das Bildtiefe nicht durch illusionistische Perspektive, sondern den reellen Einsatz von Material belegt. Die weiße Fläche hinter der lichten Schicht fließt dabei farbbestimmend in die gesamte Konstruktion aus Aluminiumstab, Eisendraht sowie Transparentpapier ein, wodurch die Wand an sich als Bestandteil der Arbeit an Bedeutung gewinnt. Sie wird in ihrer zeitgleichen Funktion als Werkstoff, Bildträger und Teil des Bildinhaltes zum Genius-Loci und damit zum Impuls der weiteren Überlegungen.
Die Wand in Beckers Arbeiten übernimmt die Funktion der Projektionsfläche für imaginäre Bilder aus der Phantasie der Betrachter. In „Frames“ gegliedert, durch Stelen akzentuiert oder durch Transparenz betont, erlaubt der weiße Grund die bildliche Eroberung, ohne sie zwingend zu forcieren. Eingedenk der täglichen Flut von Eindrücken, Bildern, nicht nur im Sinne der Kunst, gewähren die weißen Flächen den Verzicht von Farbe und vordergründiger Informationsschwemme. Dabei sucht Becker nicht die Kritik an den für Überinformation und dem damit verbundenen Konsumrausch verantwortlichen Gesellschaftsstrukturen, wie es von Künstlern seit der Pop-Art auf unterschiedliche Weise praktiziert wird. Das SARATOW – [project] in Krefeld ist vielmehr darauf an- gelegt, eine momentane Situation faktisch zu benennen. Dabei lote t Becker die vorhandenen Strukturen eines gegebenen Raumgefüges mit Hilfe eines begrenzten Material- und Formenrepertoires aus, um damit die Kraft der Reduktion im eigenen Werk nach künstlerischen Gesichtspunkten zu ergründen. Der Künstler folgt hier seinem bereits in den 70er Jahren formulierten Weg, der ihn über zarte Zeichnungen zum Thema des Striches führt. Als Basis jeder zeichnerischen Arbeit, zugleich in Form des Pinselstrichs nicht weniger grundlegend in der Malerei, benennt die gezogene Linie eine Grenze, die, sei sie nun scharfkantig oder von Ausbuchtungen zermürbt, immer zwei Bereiche voneinander trennt. Wie ein janusköpfiges Wesen markiert die Linie in ihrer Grenzfunktion zugleich einen Übergang, der als Forschungsfeld für Künstler und Wissenschaftler seit langer Zeit schon von Bedeutung ist. Becker widmet sich dieser Thematik und findet in seinen frühen Zeichnungen bereits eine Möglichkeit, die Janusköpfigkeit der Linie durch Ausfransungen und Faserungen zu verdeutlichen. Gleich einem isolierten Objekt, be- trachtet durch ein Mikroskop, wird die Linie von nun an in Bleistift- oder Ölkreidezeichnungen, später in den Acrylbildern zum Thema zahlreicher Studien. Der Künstler meidet dabei schon frühzeitig das unnötige Farbenspiel, das ihm „zu symbolbeladen und be- schreibend erscheint“. Vielmehr entdeckt Becker die Kraft der Nicht-Farben Schwarz und Weiß, die, wie Dagmar Groß 1994 erkennt, „als das Absolute [gelten], als die Summe aller Möglichkeiten, da entweder alles in ihnen enthalten oder aber noch alles offen ist.“
Wie das SARATOW – [project] belegt, hat diese auch philosophisch auslegbare Beschränkung auf Schwarz und Weiß im Werk von Martin R. Becker bis heute Bestand. Indessen sind die frühen Formen der gezeichneten oder gemalten Linien dem objekthaften Strich durch Eisendraht oder Aluminium gewichen. Selbst die Zeichnung aus Graphit dient nicht der Verdeutlichung von strichinternen Grenzspielräumen, sondern ist in ihrer Echofunktion allein der architekturbezogenen Gesamtinszenierung zuzuordnen. Überdies verliert das Licht seine selbstverständliche Funktion als Medium zur Betrachtung von Kunst und wird durch den Schein weißer Neonröhren gezielt raumgreifend zum Einsatz gebracht. Insgesamt ist die 1994 noch beobachtete Anarchie und das Chaos in den Werken von Becker, einer klaren analytischen Ausdrucksform gewichen, die den heftigen Pinselstrich früherer Tage, oder den Einsatz des Spachtels in der feuchten Acrylfarbe meidet. Und dennoch lebt die Grenzthematik im SARATOW – [project] ungebrochen weiter. Die spürbare Stille der Gesamtinstallation überträgt sich schlagartig auf den Besucher, der aus der vorgefundenen Beschränkung neue Energien schöpfen kann. Gleich einem Resonanzkörper für Ruhe erscheinen die Räume als paradoxes Erlebnis, das aus seiner Situation heraus Kraft vermittelt. So gesehen ist das SARATOW – [project] von Martin R. Becker für die Räume der GKK in seiner Gesamtheit als künstlich geschaffene Grenze zu sehen, als janusköpfiger Übergang, der eine Grenzerfahrung ermöglicht zwischen Alltag und Schein.