Prof. Dr. Volker Neuhaus, Professor
Einführungsvortrag zur Ausstellungseröffnung am 11. März 1992 in Krefeld
Kurz einige Worte zur Vita von Martin R. Becker.
Er hat im Saarland an der Pädagogischen Hochschule studiert und dabei einen auch über das Saarland hinaus bekannten Lehrer gehabt, Jo Enzweiler, einen Meister der leisen Mittel, einen Meister der Materialgerechtigkeit, der sehr viel mit Papier und Pappe als >Kunststoff< im Sinne von Stoff der Kunst gearbeitet hat und dabei mit sehr sparsamen Mitteln eindrucksvollste Wirkungen erzielt hat. Vielleicht hat das bei seinem Schüler, Martin R. Becker, auch Spuren hinterlassen. Als er sich dann in glücklicheren Zeiten, als Lehrer sich noch eine Stelle aussuchen konnten, sozusagen bundesweit umschauen konnte, hat es ihn in die Kunstmetropole Krefeld verschlagen, in den Kunstmetropolbezirk von Düsseldorf, Köln und Umgebung, in dem sich bis heute die sehr lebendige Szene des Rheinlandes entwickelt hat. Hier suchte er sich damals seinen Wohn-, Wirkungs- und Arbeitsort aus und hat dann kontinuierlich weitergearbeitet, regelmäßige Arbeit im Atelier zur Selbstfindung, zur Findung des Eigenen betrieben. Am Anfang standen Versuche, den eigenen Stil, die eigene Malweise in Auseinandersetzung mit Gegenständen zu finden, den Gegenstand sozusagen als Vorwand, als Vorwurf für die spezifische Malweise zu sehen, die ja immer schon den meisten Malern wichtiger gewesen war, als das , was sie dar- stellten, bis hin zu Max Liebermanns berühmtem Ausspruch, eine gut gemalte Rübe sei so gut wie eine gut gemalte Madonna, weil eben die Malweise im Vordergrund steht. Um 1984 erfolgte dann in seinem Werk der Durchbruch zu dem Thema, das er sich bis heute gestellt hat, in Form der Lösung vom Gegenstand, durchaus auch begriffen als Freiheit, als Freiheit vom Gegenstand, die Hinwendung zur Abstraktion oder zur absoluten Malerei, die Anfang des Jahrhunderts entwickelt wurde und die dann in den fünfziger Jahren weltweit der herrschende Stil war. Ich hatte gesagt, Abstraktion oder absolute Malerei, wobei der letztere Ausdruck wohl der Zutreffende ist. Es hat damals in der Malerei ein Wechsel des Vorbildes stattgefunden. Man wollte nicht mehr länger etwas nachahmen, wie es die Sprache oder Dichtung tut, sondern hat eher als verwandte Kunst die Musik angesehen, die ja auch mit abstrakten Konfigurationen von Tönen bestimmter Farbe, von bestimmten Rhythmen etwas in sich Ruhendes schafft, was als solches auf nichts anderes verweist als auf sich selbst und das wir dennoch oder gerade deshalb genießen können. Halten wir einen Moment inne und überlegen uns, was der Betrachter bei Bildern zu leisten hat, so ist das in der Tat eine ganze Menge. Was wir auch bei einem gegenständlichen Bild in einem Museum zunächst sehen und was ein Computer, wenn er Bilder lesen könnte, analysieren würde, wären unter- schiedlich große, unterschiedlich helle, unterschiedlich dunkle, unterschied- lich bunte Striche und Flecken auf einer zweidimensionalen Leinwand. Und wir die Betrachter sind es dann, die einen vom Maler zuvor hineingelegten verschlüsselten Sinn herauslesen. Aber das ist eine sehr, sehr starke Deutungsleistung jedes Betrachters vor jedem Bild. Denn bei einem klassischen Gemälde übersetzen wir zunächst einmal unterschiedliche Helligkeiten und unterschiedliche Linienführungen auf einer zweidimensionalen Fläche in die Dreidimensionalität des Raumes, der auf der Leinwand nicht vorhanden ist, wir bilden ihn. Zweitens vermögen wir, ich darf an ein klassisches Beispiel erinnern, an eine See- oder Gebirgslandschaft von Caspar David Friedrich,- wir vermögen im Begrenzten in einem zweiten Schritt dann zum Beispiel das Unendliche zu sehen -und das auf den sehr kleinen Bildern, wie sie Caspar David Friedrich gemalt hat. Und drittens können wir dann sogar darüber hin- aus eine Deutungsleistung vollziehen und in diesem Begrenzten und Endlichen das Ewige sehen, etwa in dem berühmten "Tetschener Altar", dem so- genannten "Kreuz im Gebirge" (1808). Das alles sind Leistungen des Betrachters, denen der Maler Vorgaben gegeben hat, der aber für sich diese Flecken, Linien und Helligkeiten auf der Leinwand entschlüsseln muß. Und genauso vermag der Betrachter auch in der abstrakten, in der absoluten Malerei etwas zu sehen. Ich darf einen führenden Vertreter, Hans Hartung, der den größten Teil seines Wirkens in Paris als Mitglied der Ecole de Paris verbracht hat, der aber aus Leipzig stammt, zitieren, der sogar in der Euphorie der Hochblüte der abstrakten Malerei, der absoluten Malerei, davon ausging, daß dies die Malerei der Zukunft sei. "Unsere Zeitgenossen oder die kommenden Generationen werden sie lesen lernen. Und eines Tages wird man diese unmittelbare Handschrift normaler als die gegenständliche Malerei finden, so wie wir unser Alphabet, das abstrakt und in seinen Möglichkeiten unbegrenzt ist, für zweckmäßiger als die figurative Schrift der Chinesen halten. Man darf dieses neue Kommunikationsmittel nicht mit seinen Formen und seinen aktuellen, besonderen Inhalten verwechseln. Letztere werden umfassenden Änderungen unterworfen sein. Aber das Neuerworbene, die Tatsache, sich bildnerisch ohne Umweg über die Natur auszudrücken, wird wahrscheinlich für immer bestehen bleiben." Nun, wie gesagt, das ist in der Euphorie der frühen abstrakten Malerei in den fünfziger Jahren gesprochen worden. Aber die Sehweise, diese Ausdrucks- weise von Künstlern, diese Sehweise des Publikums ist tatsächlich bestehen geblieben, und Martin R. Becker hat sich zum Anschluß an diese absolute Malerei entschlossen. Gleichzeitig hat er eine weitere Entscheidung bewußt getroffen, nämlich die Entscheidung zu den Mitteln Schwarz und Weiß. Er kommt in seinen Arbeiten wortwörtlich, auch in dieser großen Retrospektive, die wir hier sehen können, von der Zeichnung her. Dort drüben an der Wand hängen Arbeiten von 1984, Papierarbeiten, die die Anfänge dieser Periode dokumentieren und die ganz karg mit den Mitteln des Grau, des angegrauten Schwarz das Weiß des  Blattes zum Sprechen bringen. Er hat damals bewußt die Technik des Ausradierens eingesetzt, die Linien mit dem Radiergummi wieder entfernt, um so verwischte Grautöne zu erhalten. Und das Ziel war die ruhige Ausgewogenheit im Rahmen eines begrenzten Blattes mit sparsamsten Mitteln zu erreichen. Und das ist von da ab sein Thema gewesen. Martin R. Becker läßt all seine Bilder ohne Titel. Wenn ich dieser ganzen Ausstellung einen Titel geben dürfte, dann hieße er:" Die bunte, spannende Welt zwischen Schwarz und Weiß." Das war durchaus eine bewußte Entscheidung des Künstlers. Er stand nämlich vor der berechtigten Frage, vor der wohl jeder Künstler steht. Was kann bildende Kunst leisten in einer Welt, die uns mit visuellen, auch durchaus "künstlerisch" gestalteten, von Werbegraphikern erstellten riesigen bunten Bildern überschwemmt. Reklametafeln, Neonwände, bunteste Bilder, von Profis entworfen, bedrängen uns tagtäglich. Und es gibt da im Grunde nur zwei Möglichkeiten. Die eine, die die Pop-Art und die Op-Art gegangen sind, sozusagen > noch einen draufzusetzen <, selbst grellstes Neon einzusetzen, selbst Comic-Bilder zu vergrößern, selbst mit den grellen Plakatfarben, mit den Schockfarben der Werbegraphik zu arbeiten. Martin R. Becker ist den entgegengesetzten Weg gegangen und hat sich überlegt: Kunst hat inmitten des Grellen, des Bunten, des Riesigen, des Überdimensionierten eine Chance, im Leisen ihren Betrachter zu sensibilisieren. Das genau ist es, was er anstrebt, was ich als Titel der Ausstellung vorschlage: das Bunt des Grau zwischen Schwarz und Weiß. Das sind die beiden Pole, die er in seiner Malerei hat, andere hat er nicht, das Weiß des Papiers oder der grundierten Leinwand und das Schwarz des Graphits oder der Acrylfarbe. Becker aber interessiert wenig das Weiß, wenig das Schwarz. Ihn interessiert das Grau, das dazwischen liegt. Deshalb die Verwendung von wirklichem Metallblei zum Zeichnen auf seinen leisen sensiblen Zeichnungen, die dort auf der Rückseite hängen, das Aufhellen des schwarzen Acryls mit hellen Tönen, bis hin zum gemalten Weiß über dem grundierten Weiß. Hinzukommt, vor allem bei den Acrylbildern auf Leinwand, für die ge- samte, abstrakte oder absolute Schule typisch, die sogenannte, vornehm französisch ausgedrückt, Peinture, was nichts anderes als Malerei heißt, aber eben die spezifische Malweise meint, das Bewahren der Arbeitsspuren im fertigen Bild. Der Schwung des Pinsels erscheint, Arbeitsspuren, wie das Spritzen von Farbe aus der Tube heraus, das Auftragen von Farbe mit dem Spachtel, all das soll bewahrt bleiben und dem Bild etwas dauerhaft Prozeßhaftes geben. Bisweilen mischt Martin R. Becker seine Farben mit Sand an, um den Farbauftrag pastoser zu verdicken. Das Mittel Acrylfarbe ist gleich- zeitig auch wieder besonders geeignet für diese Malweise. Acrylfarbe trocknet sehr schnell, d.h. sie muß sehr schnell vermalt werden und kann dann auch wieder schnell übermalt werden, was alles der Spontaneität des Schaffensprozesses Rechnung trägt, nachträgliche Korrekturen erlaubt und dem Ganzen das für die absolute Malerei typische Moment des Gestischen, den Akt des Malens, auch im Bild festzuhalten erlaubt. Das alles, was dort in Farbe und in unterschiedlichen Techniken auf der Leinwand oder dem Papier geschieht, tritt in Spannung zu dem stehengebliebenen, nicht zugemalten Weiß des Untergrundes und macht dann das Bild aus, das durchaus auf diese Weise auch eine wieder vom Betrachter zu leistende, räumliche Tiefe bei seiner vordergründigen Zweidimensionalität bekommt. Und wer sich auf Martin R. Beckers Bilder einläßt, kann sie durchaus in die- sem eingangs von Hans Hartung zitierten Sinn > lesen <. Dabei sind die uns von der traditionellen Malerei her gewohnten gegenständlichen Assoziationen durchaus zulässig. Gerade hier links bei diesem Bild z.B. habe ich spontan einen Schilfdschungel gesehen, hier könnte es ein Windbruch eines tropischen Regenwaldes sein, dort wären artverwandte Themen zu beobachten. Dort hinter der Säule an der kleinen Empfangszone hängt eine Art Seestück, mit diesen Zeichnungen dort können wir durchaus eine Art Vogelflug assoziieren. Aber das sind alles vordergründige Dinge, die uns einen ersten Zu- gang zu einem Bild erlauben. Hinten gibt es abstrakte Tuschezeichnungen, die etwas an fernöstliche Kalligraphien erinnern, auch eine eigene Weise der Abstraktion aus einem anderen Kulturkreis darstellend. Das alles sind erste Zugänge zu dem Bild. Aber völlig unabhängig davon kann sich im Betrachter ein Gefühl einstellen, ein Gefühl der Geschlossenheit dieser konkreten Kompositionen, eine Geschlossenheit oft aus Konträrem erzeugt, einer Einheit aus Spannungen, von denen die extremsten die zwischen Schwarz und Weiß sind, kurz: insgesamt das Empfinden, ein geglücktes Bunt zwischen den Polen Schwarz und Weiß zu sehen.