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Werkschau III (2005)

© Jutta Saum M.A., Kunsthistorikerin

Martin R. Becker
Rede anlässlich der Ausstellungseröffnung im GKK Kunst-Spektrum
Fast lapidar mutet der Titel der Ausstellung an: „Werkschau III“. Kein Titel der viel verrät, sondern einer, den Martin R. Becker gewählt hat, weil die Ausstellung für ihn nicht nur Anlass ist, seine Bilder zu zeigen, sondern sein Werk auch selbst in neuen Konstellationen zu betrachten. Dabei kommt sich der Künstler auf die Schliche, erkennt neue Verwandtschaften zwischen den Arbeiten, die zuvor unsichtbar geblieben waren.
Durch die wohlüberlegte Präsentation, bei der er Arbeiten aus den letzten zehn Jahren in neue Beziehungen zueinander setzt, lenkt Martin R. Becker den Blick auf die kontinuierliche Beschäftigung mit einem Thema, das sein Werk bestimmt, sich aber in immer neue Erscheinungsformen kleidet.
Ein Schlüssel dazu sind die „Fragmente“. Eine Reihe von 12 Tafeln, die sich in der zweiten Etage befinden. Was hier auf den ersten Blick wie sinnlich erfahrbare Malerei erscheint, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als planes fotographisches Abbild von Malerei. Dabei hat Martin R. Becker nicht etwa einfach seine abstrakten Gemälde 1 : 1 mittels Kamera wiedergegeben, sondern Teilbereiche herausgegriffen und diese auch noch stark vergrößert. Eine Monumentalisierung der Struktur ist die Folge. Der Strich als Spur der Pinselbewegung auf der Leinwand wird gleichsam unter die Lupe genommen. Sichtbar wird seine Inhomogenität, das dichtere Zentrum und die beginnende Auflösung in der Peripherie.
Martin R. Beckers Interesse für den Strich als Gestaltungselement hat sich aus der Bleistiftzeichnung entwickelt. Bei den anfänglich noch am Gegenstand orientierten Graphiken hat die Linie zusehends an Autonomie gewonnen, bis sie schließlich selbst zum Gegenstand wurde. Über die fotographische Vergrößerung entdeckte Martin R. Becker eine neue Dimension der Bleistiftspur, die als feines, gerichtetes Konglomerat von Partikeln auf dem gekörnten Papier sichtbar wurde. Bald tauschte er den Stift gegen den Pinsel ein, griff aber nicht auf eine erweiterte Palette von Farben zurück, sondern blieb dem Spektrum von Schwarz und Weiß verbunden. Seine Pinselzeichnungen sind quasi als malerisches Äquivalent zur Topographie des graphischen Strichs zu verstehen. Durch den Maßstabswechsel tritt der plastische Aspekt des Materials in den Vordergrund. Die Tonwerte werden nicht nur als Lichter und Schatten sichtbar, die die Illusion von einem „Davor“ und „Dahinter“ also von Raum eröffnen, sondern pastose Farbpartien im Wechsel mit lasierenden Übergängen und im Kontrast zur grundierten Leinwand bieten darüber hinaus dem Auge eine Stofflichkeit, die sich dem Relief nähert.
Im Kleinen wiederholt sich das Große, Feinstruktur verwandelt sich in Grobstruktur, wobei feste Grenzen aufgelöst werden, dafür aber, weil der Strich Anfang und Ende hat, umso vehementer Richtungen und Dynamiken mit ins Spiel kommen.
Ohne diese vorhergehenden Arbeiten ist die neuste Serie „Lågøya“, die man hier in diesem Raum sieht, nicht denkbar. Eine anschwellende und abschwellende schwarze Linie auf weißem Grund mit leichten Ausfransungen bestimmt die Bilder. Sie durchläuft die extremen Querformate waagerecht, teilt als schwebender, im Erscheinen und Verschwinden begriffener Strich die Bildtafel mittig. Indem Martin R. Becker Sand und gemahlenen Stein der Farbe hinzufügt, entstehen aufgeworfene Farbränder, die wie Inseln auf dem Bild sitzen, die mal sanft auslaufen, dann wieder durch einen Bleistiftstrich verlängert werden. Zwei quadratische Arbeiten durchbrechen dieses Schema. Hier begleitet eine zweite gemalte Linie die erste als Echo. Weitere in die nasse Farbe hinein gekratzte Krakel umspielen das Paar.

Aufsetzen und Absetzen des Pinsels so wie der Modus der Bewegung ist bei allen Arbeiten dieser Serie am Duktus ablesbar. Die Linie als solche bleibt erkennbar, ist aufgesetzt und verbindet sich kaum mit dem strahlend weißen Untergrund. Trotz ihrer Klarheit ist sie dennoch keine vollkommen assoziationslose Form. Wenn man eine Waagrechte zieht, dann ist die Idee von Horizont und Landschaft unvermeidbar. Martin R. Becker weiß um diese Wirkung, beabsichtigt sie aber nicht. Seine Arbeiten sind daher alle unbezeichnet, Themenblöcke aber mit assoziativen Titeln versehen.
So ist „Lågøya“ eine Insel nördlich des 80. Breitengrades in der Nähe des norwegischen Spitzbergen, die der Künstler bereist hat. Eine Küstenlinie im arktischen Eismeer könnte man jetzt sehen, aber es ist kein Bild einer Landschaft, sondern nur eine Struktur, die neben ihrer Eigenschaft Strich zu sein auch Insel sein könnte.
Keinerlei Assoziationen zu Landschaftsräumen stellen sich bei den „Fragmenten“ von 2005 ein, die gleich im Nebenraum zu sehen sind. Linien tauchen auch hier auf, aber nicht als puristische, isolierte Form, sondern als ein ganzer Wald sich kreuzender Pinselstriche. Damit geht auch die strenge Teilung in Schwarz und Weiß zu Gunsten einer Vermalung der beiden Töne auf der Leinwand verloren.
Ähnlichkeit mit „Lågøya“ besteht aber in der Betonung der horizontalen Mitte der Panoramaformate, die bei dieser Serie mit einem dichten Scherengitter förmlich durchgeixt ist. Dabei wird das Format respektiert und zum Rand hin die Struktur gelockert.
Auf den Punkt gebracht hat Martin R. Becker das Prinzip der betonten Mitte bei seiner Arbeit „Ohne Titel“ im Bistro, die bereits 1994 entstanden ist. Eine dynamische Kreuzungssituation von aufsteigenden und absteigenden Diagonalen, bei der das Kraftzentrum im Punkt der größten Überschneidung liegt.
Jedes „Fragment“ hat trotzt einheitlichem Prinzip seinen eigenen Rhythmus und Charakter und ist für Martin R. Becker realer Beleg für fiktive Bilder. Der Rahmen des Bildes wird nur als zufällige Grenze akzeptiert, jenseits derer die formale Aktion sich zwar weiterhin entfaltet, aber eben nicht mehr sichtbar ist.
Gezielt gegen die Erwartung des Betrachters hat Martin R. Becker dann bei einigen Arbeiten aus seiner Werkgruppe „Famara“ den Bildausschnitt gewählt. Ein dunkler Grund und eine wage darüber geschichtete Helligkeit laden ein, an weite Küstenlinien und Meeresufer zu denken. Aber nur schmale Hochformate geben den Blick auf das vermeintliche Panorama frei.
Korrespondierend zum Bildausschnitt bringen vereinzelte aufsteigende Linien Spannung ins Bild. Farbe ist mit Schwung und Vehemenz auf die Leinwand gebracht, wobei willkürliche Impulse riskiert und zufällige Reflexe minimal gelenkt werden. Der Pinselstrich hat bisweilen den Charakter einer sich überschlagenden Welle, er stellt sie aber nicht dar, sondern entspringt nur einer ähnlichen Bewegung, die die malende Hand vollführt. Auch die wie auffliegende Gischt in der Brandung erscheinenden Spritzer und Kleckse sind Ergebnis dieses temporeichen Prozesses.
Die dadurch entstehende Dramatik, wird durch die vorherrschenden dunklen Töne noch gesteigert. Sand und Gesteinsmehl, das von der Vulkaninsel Lanzarote stammt, wo auch der für sein starke Brandung bekannte Strand von Famara zu finden ist, sorgt in gezielten Dosierungen für zusätzliche strukturelle Akzente – ist aber zugleich auch der einzig wirklich realistische Aspekt der Werkgruppe.
Für Irritationen beim Betrachter sorgt auch das nicht weiter betitelte Triptychon im 2. Stock. Das Thema der drei hochformatigen Tafeln ist auch hier Dynamik. Aber anstelle einer durchgängigen Bewegung, die sich kontinuierlich über die gesamte Fläche entwickelt und die Bildgrenzen überspielt, stoppt der Strich, wechselt die Richtung oder hält am Rand inne. Farbspritzer und Kleckse sind augenscheinlich auch nicht Ergebnis eines einheitlichen malerischen Prozesses. Die Tafeln stoßen sich ab wie falsch zusammengeführte Magnete. Als Betrachter beginnt man, wie bei einem Puzzle-Spiel die drei Tafeln zu drehen und neu anzuordnen – in der Hoffnung das Bildgefüge könne doch noch auf andere Weise gelingen.
Im Kontrast dazu steht die Serie „Haarlem“ im Nebenraum. Was da erscheint wie Landschaften im Morgendunst sind subtile Vermalungen einer einfachen Teilung der Bildfläche in eine schwarze und eine weiße Hälfte. Trotz gleicher polarer Grunddisposition nimmt der Malprozess seinen individuellen Verlauf. Weiche diffuse Übergänge in Grauwerten ohne ersichtlichen Duktus schaffen einen atmosphärischen Farbraum, der verführt, Nebelschwaden in der Dämmerung zu sehen, aber eben auch nur Effekt eines besonders hohen Vergrößerungsmaßstabs eines weiteren Fragments eines Strichs sein könnte.

Der stete Wechsel zwischen scheinbarer Landschaftlichkeit und offensichtlich ungegenständlichen Arbeiten ist bei Martin R. Becker Programm. Denn allesamt sind sie Varianten, die allein aus der Fragmentierung des graphischen Strichs erwachsen. Tatsächlich sind es Landschaften, die Martin R. Becker bereist und die ihn inspirieren, aber in seinen Bildern schafft er kein naturalistisches Abbild, sondern gewinnt von ihnen ein Bild in seiner Vorstellung. „Vorstufen zu einer geklärten Welt“ nennt er selbst seine Arbeiten und deutet damit wohl an, dass sie vielmehr darauf verweisen, in welchen individuellen Parametern Erlebtes angeeignet und erinnert wird.